In GAZA leben
02. Aug 2019
„Mit welcher Begründung schießen diese Menschen gezielt auf unbewaffnete Demonstranten?“ Zur Einleitung seines Vortrags zeigt Abed Schokry das Video, mit dem in Gaza an der Grenze demonstrierenden Journalisten Jürgen Todenhöfer, der von einem israelischen Gummigeschoss getroffen wurde. Regelmäßig sterben bei den Freitagsdemonstrationen in Gaza Demonstranten, aber auch Journalisten oder Rettungskräfte an Schussverletzungen. Zahlreiche Menschen werden schwer verletzt.
Er habe durchaus Verständnis für israelische Sicherheitsbedürfnisse, aber dass wehrlose Menschen von Scharfschützen aus großer Entfernung gezielt erschossen werden, das erregt den sechsundvierzigjährigen Hochschullehrer und Familienvater sichtlich.
Dabei ist der gelernte Maschinenbauingenieur eher um Sachlichkeit bemüht. Er schildert die Lebenssituation im Gazastreifen, einem von allen Seiten abgeriegelten Stück Land im Südwesten Israels. Drei Jahre hat es diesmal gedauert, bis Schokry eine Ausreiseerlaubnis nach Deutschland erhielt. Hier ist er vielen Menschen bekannt durch seine offenen Briefe aus Gaza, die er in lockerer Folge verschickt und die auch gelegentlich ein Medienecho finden. Er hätte sich nach seinem Studium in Deutschland auch sehr gut vorstellen können, hier zu bleiben. Unzerstörter Wohnraum, trinkbares Wasser aus der Leitung, wann immer der Hahn aufgedreht wird, Strom, wann immer der Schalter angestellt wird, konstante Lebensmittelversorgung, geregelte medizinische Versorgung und Zugang zu Medikamenten, zuverlässig und vollständig ausgezahltes Einkommen, Ausbildungs- und Jobperspektiven für die Jugend, die Freiheit, aus dem Land zu gehen und wieder zukommen, die Freiheit vor permanenter Überwachung durch allgegenwärtige Drohnen – das alles fehlt im Gazastreifen. Nicht einmal im Meer kann man baden, weil es verseucht ist mit Abwasser. Die Fische sind winzig und ungenießbar.
Abed Schokry neigt wirklich nicht zur Dramatisierung. Dass während der letzten nächtlichen Bombenangriffe die Dreizimmerwohnung, die er mit seiner Frau und seinen vier Kindern normalerweise bewohnt, mit dreißig Verwandten und Freunden belegt war, erwähnt er nur beiläufig.
Abed Schokry ist vor zwölf Jahren zurückgekehrt, weil er sich seinem Land verpflichtet fühlt. Er will seine Studenten motivieren, gute Leistungen zu bringen, wenn auch fast niemand von ihnen nach dem Studium eine bezahlte Anstellung bekommen wird. Eine Handvoll schafft es vielleicht, über den Akademischen Austauschdienst ins Ausland zu kommen.
Was Schokry über die Lage in diesem extrem dicht bevölkerten Stückchen Land erzählt, ist hoffnungslos. Aber es ist ihm wichtig, es erzählen zu dürfen. Es ist sein Signal an die Außenwelt: Vergesst uns nicht! Schaut nicht weg! Die Scharfschützen an der Grenze fürchtet er. Seine Art zu demonstrieren sind die Briefe nach Deutschland und seine gelegentlichen Vortragsreisen. Seine Demonstration richtet sich sowohl nach außen, als auch nach innen: Solange die Spaltung zwischen Hamas und Fatah besteht, solange wir selber uneinig sind, schäme ich mich, andere um Hilfe zu bitten.